2021 startet mit unerwarteter Stahlknappheit

Gefährden Versorgungsprobleme den wirtschaftlichen Erholungsprozess?

Die Stahlerzeugung in Europa kann den aktuellen Bedarf nicht decken und die Beschaffungskosten steigen. Einfuhrzölle erschweren die Lage. „Auf die Pandemiekrise folgt die Beschaffungskrise“, befürchtet Bernhard Jacobs, Geschäftsführer Industrieverbandes Blechumformung (IBU). In einer Umfrage gaben 86% der Unternehmen Versorgungsprobleme beim Stahleinkauf über Servicecenter an, vor allem Flachstahl sei Mangelware.

Das gleiche Bild zeigt sich Unternehmen, die Stahl direkt bei Herstellern beziehen. Die deutschen Stahlverarbeiter klagen nicht nur bei zusätzlich bestellten Stahlmengen über Lieferzeiten von mehreren Monaten bis weit ins laufende Jahr. Wie der Wirtschaftsverband Stahl- und Metallverarbeitung (WSM) berichtet, komme es selbst bei schon geschlossenen Verträgen zu Verzögerungen und verringerten Zuteilungen.

„Mittlerweile machen sich Verarbeiter in allen Segmenten große Sorgen um ihre Lieferfähigkeit in den kommenden Monaten“, sagte WSM-Hauptgeschäftsführer Christian Vietmeyer. Laut IBU-Umfrage sehen 96% durch die derzeitige Versorgungslage ihre Lieferfähigkeit bedroht; über 70% der Mitglieder befürchten Produktionsunterbrechungen im ersten Quartal 2021. „Teilweise müssen sie bereits jetzt Mengen reduzieren, weil das Vormaterial fehlt”, so Jacobs. „Zusätzlicher Bedarf ist gar nicht oder nur unter großen Mühen zu decken.”

Beschaffungskosten steigen sprunghaft

Die Versorgungsprobleme beim Stahleinkauf schlagen sich entsprechend auf die Preise nieder. Die Stahl- und Rohstoffpreise haben inzwischen nicht nur das Vor-Corona-Niveau übertroffen, sondern langjährige oder sogar historische Höchststände erreicht – vergleichbar mit dem Stahlboom 2007/2008.

Während anfangs vor allem Flachstahl von den Versorgungsproblemen und der akuten Preiserhöhung betroffen war, sind nun auch die Preise von Langprodukten, Halbzeugen sowie Spezialstählen sprunghaft anstiegen – nicht nur in Europa. In den USA droht der Mangel an Stahl zu Produktionsstillständen, Indien und China verzeichnen Rekordpreise für Zwischenprodukte.

Stahlverarbeitung zugelegt

Ein Grund für die Nachschubprobleme mit historischen Höchstständen bei den Stahl- und Rohstoffpreisen ist die unterschiedliche Entwicklung von Stahlangebot und -nachfrage. Allen voran hat die Automobilindustrie erheblich von der schnellen Erholung in China profitiert. Doch während die Produktion vieler Stahlverarbeiter seit dem Sommer unerwartet kräftig zulegte, haben die Stahlhersteller nur zögerlich nachgezogen und die Produktion nicht parallel zum Bedarfsanstieg hochgefahren.

Im Oktober und November lag die Produktion aber schon wieder über der im Vorjahreszeitraum, wie die Wirtschaftsvereinigung Stahl mitteilt. In Deutschland wurden im November 2020 rund 3,4 Mio. Tonnen Rohstahl hergestellt. Im Jahresverlauf allerdings werde die Rohstahlerzeugung im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um annähernd 12% unterschritten. Nach 2009 war 2020 das wahrscheinlich produktionsschwächste Jahr seit der deutschen Wiedervereinigung.

Einfuhrzölle erhitzen die Lage

Aus Sicht der Stahlverarbeiter wird die Lage für sie dadurch erschwert, dass die Einfuhr von Stahl aus Drittländern begrenzt beziehungsweise mit Einfuhrzöllen belegt wurde. Über 60% der Teilnehmer der IBU-Umfrage sind der Meinung, dass geltende EU-Importbeschränkungen das Versorgungsproblem verstärken. Diese gewollte Abschottung schützt europäische Stahlproduzenten und belastet wiederum die Stahlverarbeiter, die auf das Vormaterial angewiesen sind.

Doch nicht nur Europa schottet sich ab: In einem Brief an US-Präsident Joe Biden drängen u.a. das American Iron and Steel Institute, die Steel Manufacturers Association und die United Steelworkers Union darauf, die 2018 eingeführten Stahlzölle in Höhe von 25% beizubehalten. Sie rechnen mit steigenden globalen Stahlüberkapazitäten.

Das chinesische Handelsministerium plant, chinesische und ausländische Unternehmen zu bestrafen, wenn sie sich amerikanischen Sanktionen gegen China unterwerfen. Dies könne bald auch deutsche Unternehmen vor die Wahl stellen, sich zwischen den USA und China zu entscheiden.

Aufschwung und neue Ziele

Die Stahl- und Rohstoffpreise haben sich in einem verrückten Jahr, das lange unter dem Vorzeichen einer großen Stahlkrise stand, unvorhersehbar entwickelt. Wer hätte gedacht, dass Stahl weltweit in kürzester Zeit zum knappen Gut werden kann. Stahlzulieferer und Stahlverarbeiter bewerten die aktuelle Situation unterschiedlich, gerade was die Einfuhrzölle betrifft. Aber die deutschen Hochöfen laufen wieder und wir dürfen mit einer Korrektur der Preise und Lieferbarkeit vielleicht sogar noch im ersten Halbjahr 2021 ausgehen.

Denn die derzeitigen Stahlpreise sind vor allem eine Folge von Nachholeffekten. Die Abnehmer wie Autoindustrie oder den Maschinenbau füllen ihre Lager wieder auf. Die hohen Überkapazitäten gibt es nach wie vor. Weltweit sollen nach Angaben der OSZE etwa 700 Millionen Tonnen Stahl mehr produziert, als der Markt verbrauche. Das entspricht einer Überproduktion von fast 30%.

Einige Stahlproduzenten wollen das anstehende Stahljahr und den Konjunkturaufschwung dafür nutzen, Strategien und Lösungen für eine dekarbonisierte Stahlproduktion zu finden. Ein guter Zeitpunkt, um sich für die Anforderungen der Zukunft fit zu machen. Es bleibt spannend.

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