Cancel-Culture oder Culture-Cancel?

Hand aufs Herz: Wer von euch Bleichgesichtern hat Winnetou gelesen?

Meine Mutter! Meine Mutter ist und war schon immer großer Karl May Fan. Sie kennt immer noch den ganzen Namen von Hadschi Halef Omar (Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawuhd al Gossarah). Wir hatten alle Bücher zu Hause und so ist es wenig überraschend, dass ich da mal reingeschaut habe. Ich fand die Abenteuer-Filme mit Pierre Brice aus den 1960er Jahren „frei nach May“ großartig. Die über 130 Jahre alten Bücher halte ich aber für kaum lesbar. Ich habe sie nach ein paar Seiten weggelegt – habe ich unten mal zitiert. Genauso ging es mir auch beispielsweise mit der Originalfassung von Biene Maya aus dem Jahr 1912.

Eigentlich wollte ich zu dem Thema nichts sagen, weil es wie so häufig ein Clash-of-Cultures ist: Diejenigen, die alles richtig machen wollen auf der einen Seite und diejenigen, die Angst vor jeglicher Veränderung haben auf der anderen. Keiner hört dem anderen zu, denn darum geht es ihnen nicht, sie wollen schlichtweg recht haben.

Dann hat mir ein Freund einen Artikel der rechts-konservativen Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) geschickt, in dem der Autor Benedict Neff behauptet: „Eine Gesellschaft funktioniert nicht durch Empathie, sondern auch durch Widerstandskraft“. Neff ist Feuilletonchef der NZZ und war zuvor Chief of Staff des Vorstandsvorsitzenden bei Axel Springer. Den Chief der Apachen benutzt er als Aufhänger, um gegen die „Cancel-Culture-Aktivisten“ zu hetzen und sich über Gefühle lustig zu machen. Ich weiß, richtige Männer kennen nur Gefühle wie Hunger und Durst. Sie sind flink wie Windhunde, zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl… oder wie war das? Ein seltsames Menschenbild, das mir sehr fremd ist, uns aber im 21. Jahrhundert immer noch begegnet und da wollte ich dann doch was dazu sagen.

Was ist das Problem?

Das erste Mal, dass ich etwas von dem Diskurs um Winnetou mitbekommen habe war über Instagram. Bekannte riefen zum Boykott des Films auf. Das ist nicht ungewöhnlich, das kommt häufiger vor und ist in einigen Fällen durchaus berechtigt.

Anlass ist hier das furchtbar falsche und herablassende Bild der Native Americans. (Wir müssen uns nicht streiten, ob wir Indianer sagen dürfen oder nicht, im Englischen ist „Indian“ tatsächlich problematisch, so wie „Turkey“ und die Türkei durfte sich immerhin umbenennen.) Sie werden als edle Wilde, als weitherzige Prärie-Steinzeitmenschen dargestellt. Karl May hat die Kulturen frei erfunden. Alles basiert auf Erzählungen und Geschichten, die er gehört hatte. Kleidung und Artefakte, Verhalten, gesellschaftliche Strukturen etc. alles durcheinandergewürfelt, ergänzt, erdichtet, dramatisiert. Es sind Geschichten aus der Perspektive weißer Hegemonie, keine Sachbücher.

May verstand Winnetou als „Allegorie auf den roten Mann an sich“. Seine Indianergeschichten hätten also auch auf einem anderen Planeten oder in einem Paralleluniversum stattfinden können. Trotzdem haben seine Bücher unser Bild von den Native Americans geprägt – dort wird nicht erwähnt, dass es Kulturen in Nordamerika gab, die Landwirtschaft betrieben und in Städten lebten, es gab vor der europäischen Besiedlung Nationalstaaten und Demokratie. Sie teilen das Schicksal mit den Figuren bei Robinson Crusoe, Tarzan oder dem Dschungelbuch. Auch wenn es dort nicht ganz so prägend war.

Selbstverständlich müssen wir diese Literatur im historischen Kontext sehen. Angefeuert durch die Kolonien in Übersee waren neue Kulturen und andere Tiere unheimlich beliebt und en vogue. Die Leute waren damals begierig auf alles Fremde und es gab die gruseligen Menschenzoos, die auch nicht die Wirklichkeit zeigten, sondern die Erwartungen der Gaffenden bestätigten.

Brühen wir jetzt jedoch die alten Erzählungen wieder auf, verlieren wir den historischen Kontext und verbreiten ungefiltert diese Unwahrheiten. Wir fallen in alte koloniale Muster zurück. Im Prinzip ist es eine Art Culture-Cancel, weil wir den Native Americans ihre originäre Kultur nicht zugestehen. Welchen Stellenwert wir diesen verbreiteten Unwahrheiten geben, will ich nicht entscheiden.

Der Verlag Ravensburger hat jedenfalls entschieden, das Buch zum Film nicht zu veröffentlichen. Was alte und ganz neue Winnetou-Fans veranlasst, „Cancel-Culture“ oder „Zensur!“ zu brüllen. Sie fühlen sich in ihrer Freiheit beschränkt – was? sollte es tatsächlich auch hier um Gefühle gehen? Ich kenne Ravensburger von verschiedenen Projekten, schließlich ist es einer der größten deutschen Kinderbuch-Verlage. Meiner Einschätzung nach, lassen die sich nicht so einfach einschüchtern und ob ihr es glaubt oder nicht, es ist in erste Linie ein Wirtschaftsunternehmen. Da geht es um viel Geld und hohe Investitionen. Es gibt berechtigte Kritik an Ravensburger, etwa dass sie einen Großteil der Bücher in China produzieren, dass sie ungern Themen wie Diversität und alternative Familienkonstellationen aufnehmen. Aber darum geht es hier überhaupt nicht.

Worum geht es wirklich?

Karl May begründete mit den Winnetou-Romanen die Indianer-Liebe der Deutschen und zwar über alle politischen Spielarten hinweg. Viele Nationalsozialisten waren Fans – trotz der offensichtlichen Männerliebe zwischen dem hübschen Winnetou und dem deutschen Old Shatterhand. Das wirkliche oder angenommene Schicksal der nordamerikanischen Ureinwohner wurde zur antiamerikanischen Propaganda verwendet. Die Indianergeschichten dienten zum Transport verschiedener Männlichkeitsbilder, die mit den indianischen Helden verbunden wurden. „Indianer kennt keinen Schmerz!“

Den Edelindianer Winnetou hat es nicht gegeben. Karl May hat die Kulture der Apachen neu erfunden. Kleidung und Artefakte, Verhalten, gesellschaftliche Strukturen etc. alles durcheinandergewürfelt, ergänzt, erdichtet, dramatisiert; alles aus der Perspektive weißer Hegemonie.

Niemandem ging es um die realen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Realitäten der indigenen Völker Amerikas, sondern um deutsche Sehnsüchte. Die Sehnsucht nach einem ehrlichen, echten und freien, naturverbundenen Leben abseits des Alltags der stinkenden Fabriken und überfüllten Städte. Auch bei vielen Linken und in der 1968er Bewegung existierte ein idealisiertes Indianerbild. Selbsternannte Schamanen und Heiler, Umweltschützer und Esoteriker trommeln in Federschmuck und Mokassins vor ihrem Wigwam und rauchen in ihrer Friedenspfeife Weed.

Diesen Menschen rauben wir nun ihre Vorstellung, einen Teil ihrer Identität. Wir müssen ihnen sagen: Was du geglaubt hast, war falsch – den Edelindianer Winnetou hat es nicht gegeben. Es hat nicht einmal einen Häuptling der Apachen gegeben, denn die Apachen lebten und jagten in Lokalgruppen mit jeweiligem Anführer. Und schon flippen die Leute aus und drehen durch, denn was sie verstehen ist: Du bist falsch. Wir beobachten das gleiche Verhalten beim Gendern, bei der Klima- und Energiedebatte, der Neuausrichtung unserer Mobilität, etc. Nicht alle Menschen sind im gleichen Umfang bereit, das Leben und Verhalten neuen Gegebenheiten anzupassen. Manche weigern sich komplett.

Als ich meiner Mutter einmal vorgeworfen habe, dass sie früher im Auto geraucht hat, obwohl wir Kinder uns beschwert haben und uns schlecht geworden ist, sagte sie: „Ja, so war das früher, wir wussten es nicht besser.“ Das macht es nicht gut, aber wir können es nicht mehr ändern. Was wir allerdings ändern können, ist unser Verhalten heute. Wir sind empathischer und sensibler als in der Kaiserzeit. Das ist gut für alle, auch wenn es einigen schwer fällt, weil sie Privilegien verlieren. Wir schlagen unsere Kinder nicht mehr und wir prügeln uns weder in der Kneipe noch im Saloon. Und ich finde das gut so. Denn ohne Empathie sind wir die Wilden und zwar nicht die edlen Wilden.

 


Hier beschreibt Karl May seinen Helden Winnetou:

„Einen Bart trug er nicht; in dieser Beziehung war er ganz Indianer. Darum war der sanfte, liebreich milde und doch so energische Schwung seiner Lippen stets zu sehen, dieser halbvollen, ich möchte sagen, küßlichen Lippen, welche der süßesten Schmeicheltöne ebenso wie der furchterweckendsten Donnerlaute, der erquickendsten Anerkennung gleich so wie der schneidendsten Ironie fähig waren. Seine Stimme besaß, wenn er freundlich sprach, einen unvergleichlich ansprechenden, anlockenden gutturalen Timbre, den ich bei keinem andern Menschen gefunden habe und welcher nur mit dem liebevollen, leisen, vor Zärtlichkeit vergehenden Glucksen einer Henne, die ihre Küchlein unter sich versammelt hat, verglichen werden kann; im Zorne hatte sie die Kraft eines Hammers, welcher Eisen zerschlägt, und, wenn er wollte, eine Schärfe, welche wie zersetzende Säure auf den festesten Gegner wirkte. Wenn er, was aber sehr selten und dann nur bei hochwichtigen oder feierlichen Veranlassungen geschah, eine Rede hielt, so standen ihm alle möglichen Mittel der Rhetorik zur Verfügung.“

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